Ich habe versprochen, in diesem Blog eine Ergänzung zu einem BZ Artikel zum Thema “Akademie zum platzenden Knoten” innerhalb unseres Projekts “den Bahnhof verstehen” zu schreiben. Für die konkreten Projektinhalte verweise ich gleich einmal auf die Ausführungen in unserem Betreuungs-Blog. www.maennerrevolte.de. Denn dort sind auch alle Betreuungsprojekte der letzten Jahre zu finden, falls man lange genug sucht. Sorry, für alle Neuleser/innen. Ich bin ein pädagogischer Drauflosschreiber. Da am Gymnasium mehr Jungs als Mädchen leistungsmäßig betreut werden müssen, heißt der Blog so.
Die pädagogische Vorgeschichte und die Grundlagen, um die Akademie zum Platzenden Knoten zu verstehen, beschreibe ich hier im Flügelverleih-Blog, der ursprünglich ein reiner Eltern-Blog für Flügelverleiheltern war, die sich wünschten, dass sie erfahren, wie wir Flügelverleiher pädagogisch ticken und was wir so alles am Nachmittag mit den Kindern unternehmen. Da es offensichtlich viel mehr Menschen gibt, die gerne von bunt praktizierter Ganztagesschule lesen, ist es ein Blog geworden, der den Lebensraum Schule aus der Sicht von einem großen Betreuungsteam der besonderen Art beschreibt, das eng vernetzt ist mit der komplexen Gedankenwelt des Faust.
Der Schreiber selbst, also ich, Fachabteilungsleiter für Schulentwicklung und totaler Flügelverleih-Fan und seit Jahrzehnten vernarrt in unsere vielfältigen pädagogischen Konzepte, mit aktiven Schüler/innen am Faust wundervolle Projekte loszutreten und Arbeitsgemeinschaften zu fördern, weil sie Schule als Lebensraum aufbauen helfen, habe in diesem ganzen Zusammenhang auch entdeckt, wie gerne ich einfach drauflosschreibe, was uns im Team am Herzen liegt. Weil es auch innerhalb eines meiner Aufgabenfelder als Fachabteilungsleiter sehr viel vereinfacht – bei der Kommunikation mit unseren Eltern. Man muss Schule heute gut erklären, weil sie sonst oft nicht mehr verstanden werden kann.
Zum Beispiel finde ich es immer noch vollkommen unwirklich, dass wir unter Rot-Grün offensichtlich unseren Chor, unser Theater und unser Orchester verlieren sollen. Ich glaube irgendwie immer noch dran, dass unser Kultursminister demnächst laut auflacht und meint: “April, April. Mit uns streicht man doch keine musischen Arbeitsgemeinschaften. Wir sind doch angetreten, um Schule besser zu machen.”
Das alles den Eltern vermitteln kann ich leider nicht in Kurzform. Wenn ich schreibe, schreibe ich. Sorry. Und drauflos. Das hat mein Deutschlehrer früher schon bemängelt. Und meine “Unds” am Satzanfang.
Ok. Ich beginne mal.
Der Pavillon.
Schulkenner wissen, dass wir unsere fünften Klassen in einem eigenen Pavillon mit fünf Klassenzimmern unterrichten – genannt Fünferhaus. Unsere Neuen kommen zum Teil von sehr kleinen Grundschulen und waren in früheren Zeiten in der fünften Klasse von einer weit über tausend Schüler/innen-Schule oft wie erschlagen. Unser Fünferhaus ist klein und überschaubar und mit einer Stufenpädagogik ausgestattet, die das Ankommen am Faust erleichtert. Am Nachmittag findet im selben Gebäude der Flügelverleih statt. Eine Mischung von Hausaufgabenbetreuung und sozialem Lebensraum Schule. 50 bis 70 Coachs aus den Klassen 9 aufwärts arbeiten dort. Immer zwei pro Klassenraum. Betreut und angeleitet von einem Sozialarbeiter und betreuenden Lehrer/innen. Eine kleine eigene Schule in der Schule. Netzwerkbildend in vielfältiger Hinsicht. Keine Verpflichtung hinzugehen und doch seit Jahren voller Leben. Schon jetzt haben sich wieder 60% der nächsten Fünfergeneration angemeldet.
Goethe
“Zwei Dinge sollen Kinder bekommen: Wurzeln und Flügel.” schrieb schon J.W. Goethe. Im “Flügel”, wie viele Coachs unser Nachmittagsschule nennen, versuchen wir mit einem jungen und sehr kompetenten Kollegium aus späteren Sozialarbeiter/innen, Lehrer/innen, Personalchef/innen, Betriebswirt/innen etc , dem Lernen bei der Hausaufgabenbetreuung Flügel zu verleihen und die notwendigen Wurzeln versuchen wir durch Identifikation mit der Schule über die durch diese Anfangsarbeit entstehenden personellen Netzwerke innerhalb der Jahrgänge und natürlich auch jahrgangsübergreifend wachsen zu lassen. “Stufenfeeling” ist bei uns eine wichtige Diskussions-Grundlage in der Stufenpädagogik von Klasse 5 bis 7. In Klasse 8 muss es möglichst wenig Reibungsverluste bei der Neuzusammensetzung von Klassen geben. Immerhin weiß man, dass eine angenehme Lernumgebung das A und O in Sachen erfolgreiches Lernen ist. Und Klasse 8 ist Vollpubertät. Das war früher mit hohem Pädagogischem Einsatz in Sachen Mobbing verbunden. Heute ist die Neuverteilung kein besonderes Konfliktfeld mehr, weil es in Klasse 7 schon ein Stufenfeeling gibt. Fünferhaus, Sechserstockwerk, Siebenerflur …. so versuchen wir, dieser Grundidee gerecht zu werden. Und zu Beginn: Flügel verleihen.
Grundschulempfehlung
Ob wir den Wegfall der Grundschulempfehlung denn merken, werden wir in letzten Zeit oft gefragt. Denn alle Flügelverleihlehrer/innen sind auch meist parallel in der fünften Klassen tätig, um möglichst viel Gespür für einen Jahrgang zu entwickeln. Jeder Jahrgang ist anders, so ist unsere Erfahrung. Und somit die Betreuung für jeden neuen Jahrgang eine Neuentwicklung. In diesem Jahrgang müssen wir unsere frühere Personalcoachidee, wieder aufleben lassen. Der wegfallenden Grundschulempfehlung sei Dank. Wenn nun einzelne Kinder mit schlechter Werkrealschulempfehlung bei uns angemeldet sind und einfach nirgendwo Land sehen, furchtbare Noten schon in der 5. Klasse ertragen müssen und häufig auf der Krankenstation liegen oder zu Arbeiten schon gar nicht antreten können, dann benötigt man neue Konzepte für den richtigen Umgang mit der neuen Situation. Die positive Statistik in Sachen Chancengleichheit vor Ort ausbügeln, dass die Kinder keinen Knacks für’s Leben bekommen. Ich gehe so weit, zu behaupten, dass im Moment manche Kinder gerade deshalb kein Abitur machen werden, weil ihre Eltern sie entgegen der Empfehlung der Grundschullehrer/innen auf’s Gymnasium geschickt haben. Über 50% machen heute übrigens ihr Abitur nicht am allgemeinbildenden Gymnasium. Aber das nur am Rande. Mit unserer pädagogischen “Unterstufen-Denkfabrik Flügelverleih” können wir zumindest neue Ideen entwerfen, wie wir am sinnvollsten damit umgehen lernen, einen Betreuungs-Spagat auch ohne zu viele Einbußen für die Leistungsstarken durchzuführen.
Möglichkeiten
“Ja man liest doch jetzt immer mehr von diesem individualisierten Unterricht, der auch den Klugen klüger macht. Damit geht das doch ganz einfach,” denken sich viele.
Da bricht ein knappes “Hahaha” aus jemand heraus, der seit 35 Jahren an der Schulentwicklungsbasis eines großen Landgymnasiums arbeitet. Ich denke, dass ich hier auch wirklich einmal zumindest kurz und auch laut lachen darf. Unsere Meinung: Mit dem Wegfall der Grundschulempfehlung wirft man uns ins kalte Wasser der wundervollen Vorstellung vom nachhaltigen Lernen von Kindern als “Baumeister ihrer Selbst”, wie Maria Montessori es beschrieb, kombiniert mit dem Lehrer als Coach, der meist nur Hilfestellung beim selbstständigen Lernen gibt und Kinder deshalb zauberhaft im eigenen Lerntempo lernen lässt. Da träumt man leider an der gymnasialen Realität vorbei. An den Werkrealschulen hat man in diese Richtung schon richtig viel auf den Weg gebracht. Aber diese Schulform bringt man ja gerade mit dem Wegfall der Empfehlung zum Austrocknen, weil jetzt noch weniger Schüler/innen angemeldet werden.
Der Philosoph
Der Philosoph Richard David Precht formuliert in seinem neuen Buch “Anna, die Schule und der liebe Gott” 10 überzeugende Prinzipien für eine Bildungsreform: 1. Kinder wollen lernen 2. Jedes Kind ist anders 3. Vergesst die Fächer 4. Bildet Lernteams 5. Vertieft Beziehungen 6. Fördert Werte 7. Verschönert Lernorte 8. Trainiert die Konzentration 9. Schafft die Noten ab 10. Lasst ganztägig lernen.
Ja es ist, als wäre Herr Precht auf einem unserer Flügelverleihsitzungen dabei gewesen. Für eine kleine überschaubare Entwicklungs-Ecke an einer Schule, ausgestattet mit Deputatsstunden, speziell auch zum kontinuierlichen Neu-Entwickeln und Visionen wälzen, sind solche Überlegungen tatsächlich greifbar. Aber der Flügelverleih ist wie eine kleine Privatschule in der Schule, die ohne Noten auskommt und ein Coach-zu-Schülerverhältnis von 1:5 hat. Mit unserer neu gegründeten “Akademie zum Platzenden Knoten” innerhalb des Flügelverleihprojekts “Den Bahnhof verstehen” versuchen wir sehr gezielt, individuelles Lernen auf konkrete Beine zu stellen. Aber lieber Herr Kultusminister: Wir schütteln das nicht aus dem Ärmel. Da müssen wir viel dafür tun. Und für eine ganze Schule ist das echte große Entwicklungsarbeit.
Kaltes Wasser
Zu meinen, eine ganze Schule könne man schnell zu traumhaften neuen individualisierenden Lern-Formen bringen, indem man sie mit dem Wegfall der verpflichtenden Grundschulempfehlung komplett ins kalte Wasser wirft und meint, dass jetzt bitteschön alles gut und außerdem ja jetzt die Chancengleichheit schlagartig gewachsen sei und dass man dabei gleichzeitig noch die Haushaltskonsolidierung im Auge haben darf und alles, was Zusatzangebot heißt, doch bitte gerne streichen würde, also natürlich auch Deputatsstunden für die Hausaufgabenbetreuung (Weil sie doch inzwischen an vielen Schulen eingerichtet ist und dann offensichtlich von selbst läuft), der läuft stark Gefahr, einen pädagogischen Bumerang ins Leben zu rufen, dessen erzeugte Schäden später sehr viel Geld kosten werden. Wenn ich denke, wie vielen Schüler/innen wir mit unseren Betreuungsprogrammen helfen, nicht sitzenzubleiben, dann würde ich einfach behaupten: Nehmen Sie unsere spezielle Betreuungs-Zusatzarbeit weg, dann kosten die Sitzenbleiber den Steuerzahler garantiert mehr als unsere Betreuungsdeputatsstunden. Da wette ich drum. Und wenn gute Schulkultur kaputtgespart wird, kann man sie auch nicht ein paar Jahre später einfach wieder aus der Schublade holen. Warum kommt eigentlich nicht endlich mal jemand auf die Idee, das Kultusministerium parteienübergreifend zu besetzen, damit wir aus diesem ewigen Legislaturperioden-Auf-und-Ab herauskommen könnten.
Der pädagogische Kamm
Sie merken, dass mir hier als altem Schulentwicklungsurgestein kurz vor der Pensionierung der pädagogische Kamm schwillt. Ich habe viele Bildungsreformen erlebt, ab noch nie solche, bei denen ich gedacht habe: Richtig gute Ideen, die man in Ruhe weiter verfolgen sollte, behutsam vor Ort weiterentwickeln, schöne Visionen, wenn man sich darauf vorbereiten könnte, aber gleichzeitig drehen sie den Hahnen zu, dass es leider wieder nur Stückwerk bleibt. Statt dass ein Meisterstück draus wird. Frust pur. Hilfe, was für Chancen werden hier nur verspielt. Den Flügelverleih mit all seinen prallen, bunten, zukunftsträchtigen Facetten könnte schon im nächsten Jahr mit diesen kleinen Einsparungen austrocknen. Dabei arbeiten wir möglicherweise genau nach den Vorstellungen, von denen so manche hochrangigen Bildungsplaner im Moment träumen. Aktuell hat man bei der Organisation von Schule vor Ort ein mulmiges Gefühl. Da ist ein Fisch, der heißt Pflichtunterricht. Und dann kommt jemand auf die Idee, dass das Wasser eigentlich eingespart werden könnte. Oder wie bei einem Künstler, der ein wunderbares buntes Bild in die Welt gesetzt hat und jetzt erfährt, dass er es nur in Graustufen ausstellen darf. Ach wissen Sie was. Ich höre für heute auf. Kommen Sie doch einfach später mal wieder vorbei. Und drücken Sie uns die Daumen, dass Sie nicht beim Untergang des Flügelverleihs zuschauen müssen.
Gemalt
Ich könnte zum Schluss ja vielleicht noch unsere Vorstellungen von Schullaufbahn aufmalen. Schafft die Noten ab, meint Precht. Wir meinen: Nehmt die Noten in einem gewissen Rahmen nicht so wichtig. Es kommt darauf an, was am Ende steht.
Mit dem Wegfall der Grundschulempfehlung fördert man die Möglichkeit, dass Eltern nur wegen dem Satz: “Aber mein Kind geht auf’s Gymnasium” die falsche Entscheidung treffen. So ein Fehlstart ist ein Selbstbewusstseinskiller.
Wir müssen dieses Problem jetzt trotzdem lösen, sonst lassen wir diese armen Chancengleichheitkinder auch noch im Stich. Die Politik schmückt sich mit ihnen und sie selbst leiden leise. Oder lautstark. Klar, jetzt muss eben die “Beratung” in der fünften Klasse nachgeholt werden. Die heißt nun leider auch Fünfen und gar Sechsen im Zeugnis. Dabei müsste man einfach mal klar machen, dass Gymnasium allein inzwischen kein Vorteil mehr ist, wenn 62% eines Jahrgangs wie in Freiburg, Gymnasiasten werden. Für viele gäbe es erfolgreichere Wege zum Abitur. Aber da steht noch eine langwierige Überzeugungsarbeit ins Haus unserer Gesellschaft.
Ja ist gut, ich höre ja auf.