Flügelverleih meets Hattie

17. Juni 2011

Schul-Umgestaltungs-Traumreise – Vorwort

Abgelegt unter: Entwicklung — heinz.bayer @ 12:35

Bevor ich eine Schul-Umgestaltungs-Traumreise beginne, hier die Ausgangsbasis für alle drei Blogs. Flügelverleih, Opakoffer und Männerrevolte. Für die Lehrer/innen und Eltern, für die Großeltern und für die Schüler/innen selbst. Speziell natürlich hier für die männlichen. Im Laufe der Traumreise werde ich natürlich den Text auf die entsprechende Leserschaft genauer zuschneiden. Ausgangsbasis ist aber genau dieselbe. Die individuelle Entwicklung von uns Menschen.

„Mit 13 Jahren variiert das Entwicklungsalter um mindestens 6 Jahre zwischen den am weitesten entwickelten Kindern und jenen, die sich am langsamsten entwickeln.“ sagt Remo H. Largo. Wer das ist?

Remo H. Largo, geboren 1943 in Winterthur, war bis zu seiner Emeritierung 2005 Professor für Kinderheilkunde. Fast drei Jahrzehnte lang leitete er die Abteilung für Wachstum und Entwicklung am Kinderspital in Zürich, wo er die bedeutendste Langzeitstudie über kindliche Entwicklung im deutschsprachigen Raum durchführte. Er ist Vater dreier Töchter und Großvater von vier Enkeln. Seine Bücher »Babyjahre«, »Kinderjahre« und »Glückliche Scheidungskinder« sind Klassiker. Zuletzt erschien von ihm »Schülerjahre« (mit Martin Beglinger).
(„
Schülerjahre“ Largo & Berlinger, Piper Verlag, S. 19).

Als Grafik sieht die Aussage so aus.

„Ja und jetzt?“ fragt man sich natürlich als Mutter oder Vater, Oma oder Opa, als Lehrerin oder Lehrer, als Schülerin oder Schüler und als Beobachter der Schulentwicklungsszene.

„Also wenn das stimmt, dann sind ja Noten von vorneherein ungerecht.“ Stimmt. Wie recht Sie haben. Und jetzt?

Nehmen wir doch nur die Zeit bis zum Laufen. Gäbe es da Noten, dann würde das für Max und Moritz heißen, dass Moritz 16 Monate lang das Sorgenkind war, bevor sich herausstellt, dass er in Wirklichkeit mit 2 Jahren der bessere Läufer ist. Gut, dass es keine Babybenotung gibt.

Aber in der normalen Schule wird es dann zur jahrelangen Wirklichkeit. Nehmen wir Paul und Paula. Am Ende sind beide Ingenieure. Aber bis dahin ist die Wirklichkeit von Paul die eines Sorgenkindes. Für die Eltern. Für Paul. Für Oma und Opa. Für die Lehrer/innen.

Manche Schulen haben es geschafft, darauf einzugehen. Zum Beispiel die Georg-Christoph-Lichtenberg-Gesamtschule, Göttingen. Preisträger Deutscher Schulpreis 2010.

„Die Ganztagsschule hat einen hohen Leistungsanspruch, auch wenn es bis zur achten Klasse keine Noten gibt und von der fünften bis zur zehnten Klasse Haupt- und Realschüler gemeinsam mit Gymnasiasten lernen.“ steht in der Profilbeschreibung.

Nur nützt das niemand, der auf ein baden-württembergisches Normalgymnasium geht, die jetzt flächendeckend nur noch mit G8 unterrichtet werden.

Ich ziehe in den nächsten Wochen die Erfahrung aus 35 Jahren gymnasialem Schuldienst, fast ein Vierteljahrhundert Vertrauenslehrertätigkeit und 10 Jahre Abteilungsleitertätigkeit in Sachen Schulentwicklung zu Rate, um in den alten Gemäuern des dreigliedrigen Schulsystems eine kleine phantasievolle Schul-Umgestaltungs-Traumreise zu unternehmen, um den einfach existierenden unterschiedlichen Entwicklungen von uns Menschen Rechnung zu tragen. Wenigstens ein wenig. Wie oft habe ich Mails bekommen wie: „Sag doch, hättest du in der Mittelstufe gedacht, das ich mal den Doktor mache?“ Gut wenn man weit über die Schule hinaus den Kontakt hält. Dann fällt es einem irgendwann wie Schuppen von den Augen. Schule sollte zumindest umgedacht werden. Hier darf ich das ja tun. Und ich lade Sie herzlich dazu ein.

1. April 2011

Schubladen

Abgelegt unter: Entwicklung, Menschenbild, Noten — heinz.bayer @ 22:12

Ja, in Zeiten des Abiturs macht man sich als Altgedienter immer so seine Gedanken, wie Schule eigentlich heute läuft und wo falsch gedacht wird. Wo man nachbessern kann und wo von Menschen außerhalb der Schule die typischen Schubladen über dieselbe gezogen werden.

Eine der wichtigsten Schublade ist: „Der Lehrer hat mir das Fach vergrault, weil er mich nicht motivieren konnte. Deshalb bin ich so schlecht.“ Sie kennen den Satz aus der Tiefe der Erinnerung von sich selbst. Garantiert. Wenigstens von irgendeinem Fach. Ich nenne das die kleine Ohnmacht, die Schule bei den meisten Menschen hinterlässt. Weil wir Menschen auf ein System von jahrelangem benotet werden evolutionsbedingt überhaupt nicht eingestellt sind. Und weil wir Schule nicht so individualisiert betreiben können, dass man Noten nur als Orientierung benötigt, die man gerne bekommt, um zu sehen, wie man sich weiter verbessern kann. In so einer Klasse mit 30 Schülern sitzen ja einfach junge Menschen zusammen, die mit 13 Jahren einen Entwicklungsunterschied von bis zu 7 Jahren haben können. (Largo 2009). Wenn man Noten wirklich als absolutes Maß nimmt, dann benachteiligt man alle, die einfach erst später bestimmte Fähigkeiten erringen. Ich beschreibe das gerne mit folgendem Vergleich.

Wenn man ein Baby benoten würde, wie es sich bis zum Laufen hin entwickelt, dann würde das eine Baby bis zum früheren Laufen wie das andere dauernd mit guten Noten in der Welt herumkrabbeln, während man dem anderen dauernd dokumentiert, wie schlecht es ist. Wenn man die beiden immer zur selben Zeit mit dem selben Maßstab „prüft“. Dabei ist der, der später krabbelt, vielleicht später der bessere Läufer. Muss nicht sein, aber kann. Keiner kommt ja auf diese verrückte Idee, Babys zu benoten. Aber sobald die Schule losgeht, fängt das Spiel an. Eigentlich müsste man uns Menschen sehr verschieden einschulen – und das auch noch in den verschiedenen Fächern unterschiedlich. Weil auch da die Entwicklungsalter Gleichaltriger unglaublich auseinander klaffen. Das geht natürlich nicht. Außerdem würden sich Eltern von Jungen gewaltig dagegen wehren, wenn man ihnen eröffnen würde, dass aus Gerechtigkeitsgründen Jungs ab sofort zwei Jahre später eingeschult würden, damit man im Gymnasium die Unterschiede zu den Mädchen auf diese einfache Art abbauen würde. Weil es ja auch nur für den Durchschnitt gilt. Es gibt natürlich auch Jungs, die weiter entwickelt sind als gleichaltrige Mädchen. Aber im Schnitt liegen die Mädchen einfach vorne. Das war früher in den viel strengeren Schulen mit nicht so selbstbewussten Mädchen kein erkennbares Problem für die Jungs. Heute schon. Deshalb: Die Noten unter diesem Aspekt sehen hilft schon mal ein wenig. In dem Anfangsreferat für unsere Versetzungsgefährdetenbetreuung habe ich das für die Schüler/innen, die aus besagten Gründen hauptsächlich Schüler sind, so formuliert:

Das Entwicklungsalter eines Menschen ist nicht sein Lebensalter, sondern weicht immer davon ab. Nach Prof. Dr. Largo, einem Schweizer Kinderarzt, im Alter von 7 Jahren um eineinhalb Jahre „nach vorne und nach hinten“. Da sitzen also schon in der Grundschule junge Menschen zusammen, die einen Entwicklungsunterschied von 3 Jahren aufweisen. Trotzdem sind das aber einfach Siebenjährige in einer 2. Klasse, denen man den Entwicklungsunterschied nicht ansieht. Sie werden alle mit den gleichen Kriterien benotet. Klar. Wie auch anders. Niemand kennt genau sein Entwicklungsalter. Denn man weiß ja nie wirklich, ob es mangelnde Fähigkeit, mangelnde Aufnahmefähigkeit oder einfach spätere Entwicklung ist, wenn ein Kind nicht die guten Noten schreibt, die es so gerne sehen würde.

Später wird es noch extremer. Da sitzen lauter junge Menschen im gleichen Lebensalter von 13 Jahren in einer Klasse und doch kann es sein, dass da ein Junge mit einem Entwicklungsalter von achteinhalb und ein Mädchen mit einem Entwicklungsalter von 16 Jahren nach denselben Kriterien beurteilt und benotet werden. Siebeneinhalb Jahre Unterschied. Klar, das wäre ein Extremfall. Aber ich hoffe, man versteht spätestens hier, dass der Ruf nach Möglichkeiten des individuellen Lernens eine sehr ernste Grundlage hat.

Da schreibt ein Mensch mit hohem Mathematikverstand, aber späterer Entwicklung, nie besser als die Note 4, ist frustriert, glaubt nicht an sich und merkt nie, welche Fähigkeiten er mit sich herumträgt, weil alle immer gemeint haben, er sei zu blöde für Mathematik.

Noten sind Wegweiser. Mehr nicht. Das muss man hinbekommen. Es gibt leider noch kein Gerät, das einen unterscheiden lernt zwischen verzögerter Entwicklung und mangelnder Fähigkeit. Was bleibt ist nur eines: Auch mangelnde Fähigkeit kann man mit guter Arbeitshaltung wundervoll ausgleichen. Wenn man es kann. Deshalb muss lernen, es zu können. Man muss lernen, es zu wollen.

Noch komplexer wird es bei Feinuntersuchungen: Vergleicht man zum Beispiel Otto und Erwin, dann findet man zwei Jungs im Alter von 10 Jahren, bei denen die Sprachentwicklung um über 3 Jahre auseinanderklafft. Dass Otto die schlechteren Deutschnoten bekommt als Erwin ist klar. Obwohl Otto, wenn er mit 32 seine Doktorarbeit schreibt, von diesem „Mangel“ nichts mehr besitzen wird,wenn er nicht vorher aufgibt. Erwins Sozialverhalten ist dafür im zarten Alter von 10 Jahren noch um 4 Jahre hinter dem von Otto zurück, obwohl Erwin später vielleicht einmal Sozialarbeiter wird. Was sich in der Schule eigentlich nie jemand vorstellen konnte. Deshalb: Hände weg von Prognosen, was einmal aus Schülern wird. Speziell bei Jungs. Und bitte niemals von Noten auf spätere Erfolge oder Misserfolge schließen. Da liegt man sehr häufig weit daneben. Noten nur als Wegweiser nehmen, das ist die einfachste Möglichkeit.

Wer die Diagramme dazu sehen will, muss sich das Anfangsreferat als pdf herunterladen.

Fazit: Schule ist einfach ungerecht. Aber nicht wegen den Lehrern. Die sind viel besser als ihr Ruf. :-)

13. Februar 2010

Diskussionsfutter für die unterrichtsfreie Woche

Abgelegt unter: Entwicklung — heinz.bayer @ 09:07

Entschuldigung, der Artikel hatte sich versteckt. Da habe ich wohl letzte Woche in Vorfreude auf das Opa-werden beim Artikel hochladen geschlafen. Jetzt bin ich übrigens einer. :-)

Was war eigentlich Thema im Flügelverleih? Eigene Bedürfnisse formulieren und begreifen. Ja, das war das Thema der vorletzten Woche. Grundbedürfniswoche. Die zentrale Idee ist immer folgende: Persönlichkeitsentwicklung ist nicht eindimensional. Dieses tägliche In-die-Schule-gehen, Hausaufgaben machen, Lernen – damit einmal-was-aus-einem-wird ist eingebettet in eine Persönlichkeitsstruktur, die für jede und jeden ganz eigen ist. 17dimensional. Die Entwicklungsspanne, sagen Psychologen, die wir am Ende der Grundschule antreffen, beträgt 4 Jahre. In Worten: Vier Jahre. Nicht das Selbstbewusstsein zu verlieren, weil man im Moment noch nicht die Chance hat, ganz locker mitzuschwimmen, weil die eigene Entwicklungsuhr leider etwas nachgeht, das ist eine echte Aufgabe. Was bei individuellem Lernen und dem Wissen über natürliche Entwicklungsdifferenzen eigentlich prinzipiell kein Problem sein müsste. In den gängigen Schulstrukturen aber schon. Niemand denkt darüber nach, unterschiedliche Noten für 14 Fehler im Diktat zu geben – je nach Persönlichkeitsentwicklungsstand. Geht ja auch praktisch nicht. Wer will schon den Entwicklungsstand so genau ermitteln. In Klassen mit 33 Schülern. Aber man sollte es als Idee mit sich tragen, wenn man sich in der 6. Klasse etwa Sorgen macht, ob sein Sohn, der sich in Mathe ungeheuer mühen muss, um eine Drei zu erreichen, denn später trotzdem einmal Matheprofessor werden könnte. Die Antwort: “Klar doch!” Bis zum Professor ist noch ein riesig weiter Weg. Im Flügelverleih versuchen wir mit unseren verschiedensten Ansätzen, neben den erforderlichen Hausaufgaben über den Tellerrand hinauszublicken, die eigene Entwicklung als wesentlich vielfältiger zu begreifen.

Klasse 5 und 6 sind hier entwicklungspsychologisch für die meisten noch der Grundschule zuzuordnen. Die immer wieder erzählte Aussage, das Gymnasium würde die Freude am Lernen abgewöhnen, lenkt den Blick in die falsche Richtung. Es geht darum, den Kindern früh Laufen beizubringen, sich selbst einschätzen zu lernen. Damit sie als junge Erwachsene, und das sind sie eben schon sehr bald, sicher auf beiden Beinen stehen können. Damit sie mit 14, 15 Jahren, einer Zeit, in der sie biologisch gesehen erwachsen sind, sich trotzdem noch positiv dem Lernprozess unterziehen können. Prof. Ralph Dawirs, Forschungsleiter der Kinder- und Jugendabteilung für psychische Gesundheit am Uniklinikum Erlangen, schreibt in einem Interview: “Eltern sind noch nicht so lange in der Lage, die Pubertät der eigenen Kinder bewusst zu erleben. Während der längsten Zeit der Menschheitsgeschichte war es so, dass diese Phase, in der Kinder Geschlechtsreife erlangen, auch die Zeit des Generationswechsels war. Die Lebenserwartung war beispielsweise bis zum 17./18. Jahrhundert und noch im 19. Jahrhundert viel niedriger als im 20. oder gar im 21. Jahrhundert. In dem Alter, wo die eigenen Kinder in die Pubertät kamen, traten damals die Alten ab, waren gebrechlich, krank und starben häufig bereits mit 30 Jahren…….. Seit 10 Generationen hat sich die Lebenserwartung fast verdreifacht. Die älteren Erwachsenen sind noch lange aktiv. Die Jungen können deshalb ihre Potenziale nicht richtig ausagieren. Das ist dramatisch. Das heißt, die Pubertät entwickelt sich vor dem Hintergrund vitaler Eltern, die dem Nachwuchs nicht Platz machen wollen und können…..“  Interessante Sichtweise. Man sollte sich dies immer mal wieder vergegenwärtigen, wenn man junge Menschen beurteilt. Ernst nehmen, unterstützen, wertschätzen, respektieren. Das sollten ältere Erwachsene mit jungen Erwachsenen tun, deren wichtiges Aufgabenfeld Schule biologisch gesehen gar nicht so stimmig hinein passt. Wenn man dies weiß, kann man leichter unterstützen. Denn bis die Evolution biologisch nachgerüstet hat, sollte man die Zivilisation trotzdem am Laufen halten. :-)

Wenn Ihnen in der unterrichtsfreien Woche der Diskussionsstoff ausgeht, das nachfolgende Bild wäre vielleicht was dafür.

Auf Mausklick wird das Bild groß.

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