Ja, in Zeiten des Abiturs macht man sich als Altgedienter immer so seine Gedanken, wie Schule eigentlich heute läuft und wo falsch gedacht wird. Wo man nachbessern kann und wo von Menschen außerhalb der Schule die typischen Schubladen über dieselbe gezogen werden.
Eine der wichtigsten Schublade ist: „Der Lehrer hat mir das Fach vergrault, weil er mich nicht motivieren konnte. Deshalb bin ich so schlecht.“ Sie kennen den Satz aus der Tiefe der Erinnerung von sich selbst. Garantiert. Wenigstens von irgendeinem Fach. Ich nenne das die kleine Ohnmacht, die Schule bei den meisten Menschen hinterlässt. Weil wir Menschen auf ein System von jahrelangem benotet werden evolutionsbedingt überhaupt nicht eingestellt sind. Und weil wir Schule nicht so individualisiert betreiben können, dass man Noten nur als Orientierung benötigt, die man gerne bekommt, um zu sehen, wie man sich weiter verbessern kann. In so einer Klasse mit 30 Schülern sitzen ja einfach junge Menschen zusammen, die mit 13 Jahren einen Entwicklungsunterschied von bis zu 7 Jahren haben können. (Largo 2009). Wenn man Noten wirklich als absolutes Maß nimmt, dann benachteiligt man alle, die einfach erst später bestimmte Fähigkeiten erringen. Ich beschreibe das gerne mit folgendem Vergleich.
Wenn man ein Baby benoten würde, wie es sich bis zum Laufen hin entwickelt, dann würde das eine Baby bis zum früheren Laufen wie das andere dauernd mit guten Noten in der Welt herumkrabbeln, während man dem anderen dauernd dokumentiert, wie schlecht es ist. Wenn man die beiden immer zur selben Zeit mit dem selben Maßstab „prüft“. Dabei ist der, der später krabbelt, vielleicht später der bessere Läufer. Muss nicht sein, aber kann. Keiner kommt ja auf diese verrückte Idee, Babys zu benoten. Aber sobald die Schule losgeht, fängt das Spiel an. Eigentlich müsste man uns Menschen sehr verschieden einschulen – und das auch noch in den verschiedenen Fächern unterschiedlich. Weil auch da die Entwicklungsalter Gleichaltriger unglaublich auseinander klaffen. Das geht natürlich nicht. Außerdem würden sich Eltern von Jungen gewaltig dagegen wehren, wenn man ihnen eröffnen würde, dass aus Gerechtigkeitsgründen Jungs ab sofort zwei Jahre später eingeschult würden, damit man im Gymnasium die Unterschiede zu den Mädchen auf diese einfache Art abbauen würde. Weil es ja auch nur für den Durchschnitt gilt. Es gibt natürlich auch Jungs, die weiter entwickelt sind als gleichaltrige Mädchen. Aber im Schnitt liegen die Mädchen einfach vorne. Das war früher in den viel strengeren Schulen mit nicht so selbstbewussten Mädchen kein erkennbares Problem für die Jungs. Heute schon. Deshalb: Die Noten unter diesem Aspekt sehen hilft schon mal ein wenig. In dem Anfangsreferat für unsere Versetzungsgefährdetenbetreuung habe ich das für die Schüler/innen, die aus besagten Gründen hauptsächlich Schüler sind, so formuliert:
Das Entwicklungsalter eines Menschen ist nicht sein Lebensalter, sondern weicht immer davon ab. Nach Prof. Dr. Largo, einem Schweizer Kinderarzt, im Alter von 7 Jahren um eineinhalb Jahre „nach vorne und nach hinten“. Da sitzen also schon in der Grundschule junge Menschen zusammen, die einen Entwicklungsunterschied von 3 Jahren aufweisen. Trotzdem sind das aber einfach Siebenjährige in einer 2. Klasse, denen man den Entwicklungsunterschied nicht ansieht. Sie werden alle mit den gleichen Kriterien benotet. Klar. Wie auch anders. Niemand kennt genau sein Entwicklungsalter. Denn man weiß ja nie wirklich, ob es mangelnde Fähigkeit, mangelnde Aufnahmefähigkeit oder einfach spätere Entwicklung ist, wenn ein Kind nicht die guten Noten schreibt, die es so gerne sehen würde.
Später wird es noch extremer. Da sitzen lauter junge Menschen im gleichen Lebensalter von 13 Jahren in einer Klasse und doch kann es sein, dass da ein Junge mit einem Entwicklungsalter von achteinhalb und ein Mädchen mit einem Entwicklungsalter von 16 Jahren nach denselben Kriterien beurteilt und benotet werden. Siebeneinhalb Jahre Unterschied. Klar, das wäre ein Extremfall. Aber ich hoffe, man versteht spätestens hier, dass der Ruf nach Möglichkeiten des individuellen Lernens eine sehr ernste Grundlage hat.
Da schreibt ein Mensch mit hohem Mathematikverstand, aber späterer Entwicklung, nie besser als die Note 4, ist frustriert, glaubt nicht an sich und merkt nie, welche Fähigkeiten er mit sich herumträgt, weil alle immer gemeint haben, er sei zu blöde für Mathematik.
Noten sind Wegweiser. Mehr nicht. Das muss man hinbekommen. Es gibt leider noch kein Gerät, das einen unterscheiden lernt zwischen verzögerter Entwicklung und mangelnder Fähigkeit. Was bleibt ist nur eines: Auch mangelnde Fähigkeit kann man mit guter Arbeitshaltung wundervoll ausgleichen. Wenn man es kann. Deshalb muss lernen, es zu können. Man muss lernen, es zu wollen.
Noch komplexer wird es bei Feinuntersuchungen: Vergleicht man zum Beispiel Otto und Erwin, dann findet man zwei Jungs im Alter von 10 Jahren, bei denen die Sprachentwicklung um über 3 Jahre auseinanderklafft. Dass Otto die schlechteren Deutschnoten bekommt als Erwin ist klar. Obwohl Otto, wenn er mit 32 seine Doktorarbeit schreibt, von diesem „Mangel“ nichts mehr besitzen wird,wenn er nicht vorher aufgibt. Erwins Sozialverhalten ist dafür im zarten Alter von 10 Jahren noch um 4 Jahre hinter dem von Otto zurück, obwohl Erwin später vielleicht einmal Sozialarbeiter wird. Was sich in der Schule eigentlich nie jemand vorstellen konnte. Deshalb: Hände weg von Prognosen, was einmal aus Schülern wird. Speziell bei Jungs. Und bitte niemals von Noten auf spätere Erfolge oder Misserfolge schließen. Da liegt man sehr häufig weit daneben. Noten nur als Wegweiser nehmen, das ist die einfachste Möglichkeit.
Wer die Diagramme dazu sehen will, muss sich das Anfangsreferat als pdf herunterladen.
Fazit: Schule ist einfach ungerecht. Aber nicht wegen den Lehrern. Die sind viel besser als ihr Ruf.