Ich träume heute mein Spezialbildungssystem nur ganz kurz durch die Kindergarten- und Grundschulzeit. Dort hat sich in den letzten Jahren sehr viel getan. Die Kolleginnen und Kollegen machen eine sehr gute Arbeit. Rückblickend erzählen die Kinder bei uns ja auch immer fast nur Gutes. Grundschule für Gymnasiasten, das war immer der Selbstläufer, wenn man genau zuhört. Gute Voraussetzungen, könnte man meinen. Irgendwo ist da aber trotzdem ein Systemfehler. Denn wenn die Jungs und Mädels in der weiterführenden Schule ankommen, fehlt viel zu vielen ein alles entscheidender Faktor: Die richtige Arbeitshaltung. Fragen Sie mich jetzt nicht, was man kindergarten- und grundschulseits ändern könnte. Ich bin in diesen Jahrgangsstufen kein Fachmann. Ich würde mir auf alle Fälle eine Pädagogik wünschen, die zentral und irgendwie bedingungslos am Thema Arbeitshaltung arbeitet. Wenn ich vom Design und von der Bequemlichkeit gesehen das tollste und schickste Auto baue, aber der Motor stottert, dann wäre dieses Auto unverkäuflich.
Speziell Eltern können hier natürlich entscheidend unterstützen. Von Babybeinen an. Da ist sehr viel Fingerspitzengefühl und ein gutes Gespür gefragt. Denn Arbeitshaltung ist eine komplexe Angelegenheit. Viel beobachten. Viel reflektieren. Viel darüber reden. Nicht immer auf die Umstände schieben. Langeweile zulassen, Langeweile selbstständig verändern lernen. Langeweile in Eigenständigkeit ummünzen lernen. Bei der allgemeinen Bespaßung des heutigen Kinderlebens immer auch an die Spätfolgen denken. Wer keine Zeit hat, sich mit sich selbst zu beschäftigen, der kann sich in der weiterführenden Schule schlechter zurücknehmen. Ein „absolutes Muss“ in Klassen, in denen oft 30 Schüler/innen sitzen. Aber diesen Grundlagen-Motor richtig gut zu konstruieren, viel Mühe genau hier zu investieren, das lohnt sich einfach. Ich habe beim jetzigen Abitur die Arbeitshaltungsnoten meiner damaligen Fünftklässler und jetzigen Abiturienten mit den Abitursschnitten verglichen. Selbstläuferzeugnis habe ich diese Zeugnisse damals genannt. Der Zusammenhang der Abitursnoten mit der Arbeitshaltung in Klasse 5 – dem Selbstläuferverhalten – war fast ohne Abweichungen verblüffend klar und ableitbar: Sehr gute Arbeitshaltung in Klasse 5 und sehr gute Grundschulempfehlung brachte in dieser Klasse durch die Bank ein Abitursschnitt zwischen 1,0 und 1,5. Sehr gute Arbeitshaltung und eine gerade noch Gymnasialempfehlung war durch die Bank ein 2,5 bis 3,2 Schnitt. Eine mittelmäßige Gymnasialempfehlung und eine normale, durchschnittliche Arbeitshaltung brachte für Mädchen einen Schnitt zwischen 2,1 und 3,2. Bei Jungs entweder einen Wechsel zur Realschule in nach Klasse 8 oder ein Gerade-noch-so-Abitur schlechter als 3. Bei einer knappen Gymnasialempfehlung mit schlechter Arbeitshaltung kamen weder Mädchen noch Jungs am Abitur an. Da gab es in dieser Klasse immer einen schnellen Schulwechsel vor Klasse 8. Zwei Abweichungen gab es. Ein 1,2 Abitur (männlich) trotz einer anfänglichen Selbstläuferschwäche. Das war eine klare Entwicklungssache. Der junge Mann hat einfach noch Zeit gebraucht, um seine Selbstständigkeit im Lernen auf die richtige Schiene zu setzen. Und dann gab es da noch ein Mädchen, das zwar ganz erfolgversprechend anfing, mit guter Arbeitshaltung und durchschnittlicher Gymnasialempfehlung. Aber dann durch die Vollpubertät wild gebeutelt wurde und vor dem Abitur mit Fachhochschulreife von der Schule ging.
Alles in allem für mich eine klare Ansage, die Arbeitshaltung in Klasse 5 genau zu beobachten und dies auch als wichtigen Indikator für spätere Schulleistungen zu sehen. Speziell die Eltern der klugen kleinen Jungs sollten diese Langzeitproblematik kennen. Kluge lebenslustige junge Menschen, die nach entspannten Grundschulzeiten ohne viel zu lernen – nur mit dem allmorgendlichen Gutaufpassen – locker die weiterführende Schule erreichen. Um dann schon in der 5. Klasse festzustellen: Die natürliche dauerspaßige Lebhaftigkeit, gekoppelt mit dem Unvermögen, sich längere Zeit konzentriert selbst zurücknehmen zu können, ist das Haupt-Startproblem am Gymnasium, Das sich in der 5. Klasse aber noch nicht in Noten ausdrückt. Da wird der lebhafte, lustige und clevere Bursche aus der 4. Klasse innerhalb eines halben Jahres zum hilflosen Westernhelden, dem die Prärie abhanden gekommen ist. Denn diese moderne Schule, meine Damen und Herren, setzt auf offene Systeme mit viel Selbstständigkeit und so manche jungen Helden reiten und jagen trotzdem immer noch in Wildwestmanier – dabei sind Indianer und Schurken alle verschwunden und auch keine richtigen, kernigen Sheriffs sind weit und breit in der Schule zu finden. Zu Hause gibt es oft auch schon lange keine Sheriffs mehr, die Regulativ sein könnten und die die richtigen Grenzen klar definieren. Die von den meisten Eltern eigentlich erträumte offene Schule mit wenig Reglementierung und viel Selbstbestimmung, die für drei Viertel der Schüler/innen auch wunderbar funktioniert, entpuppt sich für so manchen kleinen Helden als echte Lebensfalle. Ich mache übrigens mit allen meinen 5. Klassen solche Arbeitshaltungszeugnisse. Es ist jahraus, jahrein immer eine ähnliche Verteilung. In diesem Jahr haben wir so ein Arbeitshaltungszeugnis sogar einmal für eine ganze Stufe gemacht. a für sehr gute bis e für sehr schlechte Arbeitshaltung. Wenn man dann die Jungs schwarz und die Mädchen weiß ausdruckt und Excel sortieren lässt, sieht man, wo unser männliches Heldenproblem liegt.
Wir brauchen dringend neue Gesamtkonzepte und die Eltern müssen früh dringend mit ins Boot, denn die großen Helden sind ja im schulischen Alltag die heftigsten Bremser für sich und auch für alle Nichthelden.
Übrigens zum Trost für alle jetzt „Oh-wie-schrecklich-ist-das-alles“- Denker. Die prinzipiell klugen, aber schulisch untergegangenen Helden mit dem kleinen Makel, es nicht auf dem direkten Weg geschafft zu haben, diese späteren „richtigen Männer“ der spätzündenden Abteilung, die ihren Eltern in der Heldenvollpubertät so viel Angstschweiß entlockt haben, entwickeln sich trotzdem oft zu späten echten Helden. Entwickeln sich gerade manchmal sogar sensationell wunderbar, wenn das Feinbild Schule den Blick einmal nicht mehr verstellt und dafür irgendwann die zentrale Frage im Raum steht: “Hilfe, ich habe da so ein Leben, das muss ich jetzt ja wohl doch irgendwas draus machen. Denn es ist offensichtlich mein einziges. Und es gehört mir, nur mir. Und dummerweise schenkt mir da wohl doch keiner etwas.“ Und siehe da. Dieser schlichte Blickwinkelveränderungs-Schalter bei spätzündenden Helden ist oftmals eine wunderbare späte Traumerfüllung im Leben von meist männlichen Menschen. Wenn auch auf riesigen Umwegen.